Samstag, 24. August 2013

Eveline Hasler - Anna Göldin. Letzte Hexe

Glarus im Jahr 1782. Die beschauliche Kleinstadt ist in heller Aufruhr. Die kleine Tochter des angesehenen Ratsherrn Tschudi liegt seit längerem krank im Bett. Sie spricht wirr im Fieber und spuckt Stecknadeln und Nägel aus. Schon bald steht für die Glarner fest: die Haushälterin Anna Göldi, die vor kurzem aus dem Dienst entlassen wurde, muss das Kind verflucht haben. Göldi wird steckbrieflich gesucht, gefasst und in einem Prozess der Magie beschuldigt. Ihr Schuldspruch basiert auf einem unter Folter erpressten Geständnis - im Jahr 1782 wird in der Schweiz eine der letzten Hexenhinrichtungen Europas durchgeführt. Im Jahr 2007 wurde Anna Göldi als Opfer eines Justizmords rehabilitiert.

So weit zu den harten Fakten, die man während des Lesens des Romans serviert bekommt. Allerdings handelt es sich bei Eveline Haslers Werk nicht um ein Sachbuch, sondern einen im Stil sehr experimentellen Roman, der den Leser streckenweise ganz schön herausfordert. Zum einen liegt es an der altertümlichen Sprache, zum Teil sind Glarner und Zürcher Dialektanklänge spürbar, zum anderen ist es auch der Aufbau der Erzählung. Es ist keine chronologische Lebensgeschichte, die hier erzählt wird, sondern Hasler arbeitet sehr stark mit Rückblenden. Die muss sich der Leser gelegentlich selbst in die richtige Reihenfolge bringen, muss selbst mit rekonstruieren, wer sie war, diese Anna Göldi. Tochter armer Leute, der Vater stirbt früh, Anna wird mit 14 in Dienst geschickt. Sie hat zwar Lesen, aber nicht Schreiben gelernt, ist intelligent oder zumindest bauernschlau und sucht sich Stellen bei reichen Leuten, deren Dienstboten innerhalb der Hierarchien etwas höher stehen als anderswo. Mit einem Dienstherren hat sie ein Verhältnis, ein uneheliches Kind wird geboren und Anna dafür bestraft. Bei den Tschudis versucht sie, einen Neuanfang zu starten.
Was genau geschieht, wie die Erkrankung des Mädchens abläuft, welche Erklärungen es dafür gibt, darüber lässt Hasler den Leser im Unklaren. Ähnlich wie die Zeugen damals steht man nur vor den Schilderungen und muss versuchen, eine Erklärung zu finden, die überzeugt. Dass Anna eigentlich vor allem vor Gericht gestellt wird, weil die Obrigkeiten nicht anders mit dem Fall umgehen zu wissen und einen Schuldigen brauchen, wirkt heute ebenso absurd, wie es damals gewesen sein muss. Sie selbst steht vor einem unlösbaren Dilemma - zugeben, dass sie das Kind verflucht hat, und damit die Hinrichtugn vorantreiben, oder alles abstreiten und als verstockte Giftmischerin hingerichtet werden. Offiziell stirbt Anna als Giftmischerin, die das Gift aber auf magische Weise beigebracht hat - die Nachwehen der Aufklärung, die Rationalität ist theoretisch vorhanden, treten aber hinter den Hexenglauben zurück. Anna Göldi ist letztlich auch ein Lehrstück über die Frage, wie man mit Untergebenen umgeht, die es wagen, sich nicht allem unterzuordnen, und wie schnell man Dinge glaubt, nur weil sie praktisch sind.

Ich fand das Buch wirklich hervorragend, wenn ich auch diesmal extrem langsam lesen musste. Wer sich für Hexenprozesse interessiert und Infos möchte, erfährt hier nicht viel, wird aber zumindest mit einer anrührenden und experimentellen Darstellung belohnt ;-)

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