Freitag, 28. Oktober 2011

Kate Morton - Der verborgene Garten

Australien, 2005: Als Cassandras Großmutter Nell, bei der sie aufgewachsen ist, mit über achtzig Jahren stirbt, hinterlässt sie ihrer Enkelin ein mehr als seltsames Erbe: ein altes Cottage an der englischen Küste.
Australien, 1975: Nell, die nach einer Offenbarung ihres Vaters sämtlichen Kontakt zu ihren Verwandten abgebrochen hat, reist nach England auf der Suche nach ihrer Vergangenheit.
Australien, 1913: Ein kleines Mädchen wird im Hafen gefunden, ohne Namen, ohne Verwandte.
England, 1913: Die Schriftstellerin Eliza wird von ihrer Cousine Rose, mit der sie gemeinsam aufgewachsen ist, um einen Gefallen gebeten, der unglaublich erscheint.
Das sind – grob zusammengefasst und ohne unnötige Spoiler (Danke, Klappentext im Inneren des Buchumschlags, dass du mir sämtliche Lesefreude geraubt hast!!!) – die Handlungsstränge, die uns in „Der verborgene Garten“ begegnen. Das Ganze ist gradezu königlich miteinander verwoben, immer wieder taucht ein Detail in der Gegenwart/Vergangenheit auf, das zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt eine Rolle gespielt hat oder spielen wird. Hilfe, man wird ja schon beim Rezensieren völlig wirr im Kopf!
„Der verborgene Garten“ ist ein gutes Buch, aber es ist nicht das Beste von Kate Morton. Woran könnte es liegen? Ich glaube, einfach daran, dass sie so unglaublich, unglaublich viel hineingepackt hat und zum Teil Ideen irgendwo untergehen lässt oder dann noch was nachkommt, was man eigentlich nicht braucht (ein Beispiel stellt auf jeden Fall der Bereich Pädophilie und Inzest dar, den es eigentlich nicht so konsequent dauernd in der Andeutung bräuchte…) Ich will doch nur wissen, wie das alles zusammenhängt, ich brauch nicht noch ein neues Ding drin. Dann natürlich die nervige Liebesgeschichte und Cassandras Selbstfindung (denn natürlich trägt auch sie ein fürchterliches Päckchen mit sich herum – auch das ist wieder etwas, was die Story eher unnötig in die Länge zieht). Nichtsdestotrotz: das Buch lohnt sich in jeder Seite. Interessant recherchiert (aber bitte, muss dann ausgerechnet noch Frances Hodgson Burnett auftreten? Der titelgebende Garten als Inspirationsquelle für „Der geheime Garten“ ist dann doch ein bisschen arg dick aufgetragen!) und mit einer spannend durchkonstruierten Grundgeschichte ausgestattet, ein Familiengeheimnis von fast epischem Ausmaß, dass sich hier allmählich aufblättert, interessante und gut gestaltete Charaktere mit einem gehörigen Maß an Tiefgang (z.B. Rose und ihre Mutter, die haben mir ausnehmend gut gefallen!), ein gezielter Spannungsbogen …
Doch, ich empfehle es weiter, wenn auch nicht mit voller Punktzahl.
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Katherine Webb - Das geheime Vermächtnis

Es gibt gute Familiensaga-Romane (warum sonst empfehle ich hier denn dauerhaft Kate Morton?) und es gibt … naja, sagen wir, es gibt Familiensaga-Romane, die sich an ihrer Grundidee aufhängen und dann um jeden Preis versuchen, etwas „Neues“ oder „Originelles“ zu schaffen. Dabei kann es dann passieren, dass die Ideengäule durchgehen und ein wenig zu viel auftaucht, sodass die innere Logik der Geschichte oder das, was ich den Erzählflow (also das angenehme Gefühl des Sich-in-den-Roman-Reinversenken) nenne, ein bisschen leiden, weil ich beim Lesen eher das Gefühl habe: „Ahja, klar … mhm … ui, jetzt werden wir auch noch exotisch“.
Genau das ist meiner Meinung nach Katherine Webb passiert. Erica und Beth erben von ihrer Großmutter den Landsitz Storton Manor. Einzige Bedingung ist, dass beide dort leben – was sie nur ungern tun, denn beide verbinden damit vor allem die Erinnerung an den Sommer, in dem ihr Cousin Henry spurlos aus Storton Manor verschwand. Beim Ausräumen entdeckt Erica eine Fotografie ihrer Urgroßmutter Caroline mit einem Säugling – aber der kann keiner ihrer Vorfahren sein, denn Caroline war zum Zeitpunkt der Aufnahme des Fotos noch unverheiratet.
So weit, so gut. Die Ausgangsbasis klingt spannend und vielversprechend, wird jetzt jedoch angereichert mit der gehörigen Prise Exotik. Es treten auf: ein Gruppe nicht näher definierter Angehöriger von „wanderndem Volk“; ein liebenswerter geistig Behinderter; ein verbotener Jugendfreund; ach ja, und ein paar Indianer braucht man auch noch. Das ganze einmal gut durchmischen und *zack* haben wir eine Familiensaga, die an ihren eigenen Ideen zu Grunde geht. Das liegt daran, dass die Figuren dazu tendieren, immer nur zwischen extremen Gefühlslagen zu pendeln und dadurch gerne mal Handlungen vornehmen, die – mit Verlaub gesagt – ziemlich überzogen sind. Und genau so eine überzogene Handlung (ach halt nein, gleich ihrer zwei, oder vielleicht doch drei?) macht dann die Auflösung dieses Buches aus, von dem ich dadurch ziemlich enttäuscht war. Immerhin, ein hübsches Titelbild haben sie ausgesucht, aber die Geschichte ist maximal drei Sternchen wert.
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T.C.Boyle - Das wilde Kind

Ich staune immer mal wieder drüber, wenn in Rezensionen von T.C.Boyle die Rede ist und man ihn mit dem schönen Begriff des „Humoristen“ bedenkt. T.C.Boyle ist ein ausgemachter Zyniker, aber sicher nicht „Humorist“, auch wenn er seinen Zynismus mit einer Portion Humor anreichert. Umso überraschter war ich, als ich „Das wilde Kind“ in die Hände bekam, denn das ist ein so untypischer Boyle, der aber gleichzeitig in sein Gesamtwerk passt. In der ziemlich schmalen Erzählung geht es vor allem um die faustisch anmutende Frage, was es ist, das uns zum Menschen macht.
„Das wilde Kind“, das ist Victor. Er wurde (und das ist tatsächlich der reale Kern an der Geschichte) 1797 im Süden Frankreichs gefunden, nackt auf einem Baum. Victor war im Wald aufgewachsen, ohne Kontakt zur Außenwelt oder zu Menschen, er konnte nicht sprechen, erkannte sein Spiegelbild nicht und war damit ein gefundenes Fressen für die Wissenschaft, die hier den „reinen Wilden“ frei nach Rousseau erkannte. Victor wurde in die Obhut einer Taubstummeneinrichtung gebracht und seine Erziehung dem Arzt Jean Itard anvertraut, der ihn nicht nur Grundkenntnisse im Alltagsleben vermitteln sollte, sondern vor allem das Gefühlsleben des Jungen erforschen sollte.
Was aus Victor wurde? Darüber weiß man nicht allzu viel, denn nach Abschluss von Itards Forschungen verschwand er mehr oder weniger im Dunkeln der Geschichte. Auch Boyle hält sich mit der Ausschmückung dieser Details nicht auf, sondern konzentriert sich in seiner Erzählung einzig auf die fünf Jahre Forschung Itards, die in ihrem Forschungsdrng fast schon erschreckend und gleichzeitig so faszinierend sind: was macht uns zum Menschen? Verstehen wir tatsächlich etwas oder sind wir nur vom actio-reactio-Prinzip geprägt? Wieviel darf Wissenschaft, um zur Erkenntnis zu gelangen? Wieviel ist das „Menschliche“ in uns wert, wenn wir der Wissenschaft dienen sollen? Und was bedeutet „Mensch sein“ tatsächlich?
Victor ist umgeben von antändigen Menschen, die der Meinung sind, das Beste zu tun. Für ihn und für die Menschheit. Dass das aber nicht automatisch dieselbe Richtung bedeutet, fällt dabei unter den Tisch, und als Leser sitzt man zum Teil fasziniert-erschreckt da und fragt sich, ob denn niemand merkt, dass Victor auch ohne geometrische Formen bislang sehr gut überlebt hat. Im Gegensatz zu Kaspar Hausser (der zwar isoliert aufgewachsen ist aber dessen Isolation nicht so vollständig gewesen sein kann wie die von Victor) war bei Victor nicht zu erwarten, dass man hier jemanden findet, der sich nach einem halben Jahr in fließender Sprache über sein bisheriges Leben äußern kann, aber trotzdem wird es versucht – einfach nur, weil man es kann und niemand „nein“ sagt.
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Montag, 10. Oktober 2011

Walter Moers - Das Labyrinth der träumenden Bücher

Ich bin gerade echt, echt stinkig. Nein, ich bin mehr als nur stinkig, ich bin wirklich angepisst. Seitdem Anfang des Jahres klar wurde, dass es eine Fortsetzung von "Die Stadt der träumenden Bücher" geben wird, habe ich dem Veröffentlichungsdatum entgegengefiebert. Am Samstag war es so weit, ich habe es in die Buchhandlung geschafft, 24,95€ auf den Ladentisch gelegt und meinen Schatz nach Hause getragen, wo ich ihn die letzten drei Tage über gelesen habe.

Drei Tage lang? Einen Walter Moers? Ich?

Ja.

Erstens, ich bin in letzter Zeit ziemlich möde. das Referendariat ist anstrengender als auch ich dachte. Aber, vor allem, zweitens: das Buch hat mich irgendwann angeödet. Und zwar einzig und allein deshalb, weil eigentlich nichts passiert. Absolut und total GAR NICHTS! Das bisschen Handlung, das sich durch die 420 Seiten zieht, lässt sich zusammenfassen mit "Hildegunst von Mythemetz erhält einen seltsamen Brief und kehrt zurück nach Buchhaim". Der Rest ist entweder ein platter Wiederaufguss von "Die Stadt der träumenden Bücher" (Entschuldigung, aber der Inhalt des Vorgängers wird sieben Kapitel lang erneut erzählt - zwar spannednd argestellt, aber mal unter uns Kellerkindern, das ist doch pure Zeilenschinderei!) oder es sind nette Ideen, in denen er sich aber echt verliert (ja, ja, man könnte jetzt argumentieren, mythenmetzsche Abschweifung und so) und die dann irgendwann, so schrecklich es klingt, langweilig werden. Da ist nicht mehr das frische, das neue - Buchhaim hat sich zwar verändert, aber letztendlich beschreibt er nochmal genau dasselbe in Grün. Nur mit Theater und Marionetten statt mit Büchern. Und ohne Buchlinge. Ich meine: gänzlich ohne Buchlinge. Nichtmal eine Fußspitze ist von ihnen zu sehen!

Wäre ich positiv beeinderuckt, würde ich schreiben: Moers schafft es, die literarische Entwicklung von Mythenmetz nachzuvollziehen vom Stürmer und Dränger hin zum altehrwürdigen, klassischen Schriftsteller, dessen Werke vor allem schildern statt Abenteuer zu versprechen. Das ist wirklich nett gemacht. Aber ich bin einfach echt sauer, vor allem wegen des Endes. Da glaubt man endlich, genau jetzt käme mal Fahrt in den Roman und dann - CLIFFHANGER! Fortsetzung folgt! Es ist, als hätte Moers selbst nicht so genau gewusst, was er eignetlichs chreiben will, dann mal angefangen, zwischendrin die Lust verloren, aber weil es gad da war, wird die Scheiße (entschuldigt, dass ich das so offen sag) zwischen zwei Buchdeckel gepresst und fertig.

Die Fortsetzung folgt - ohne mich.

Montag, 3. Oktober 2011

Margret Nissen - Sind Sie die Tochter Speer?

Margret Nissen, geboren 1938, hat lange Jahre versucht, jede öffentliche Äußerung zu vermeiden, die sie in Verbindung zu ihrem Mädchennamen bringen könnte. Das änderte sich erst, als Heinrich Breloer den Film "Speer und Er" drehte und sie sich dadurch zum ersten Mal mit ihrer Familiengeschichte auseinandersetze. Denn Margret Nissen ist nicht nur Margret Nissen, sondern vor allem auch die "Tochter Speer", viertes von sechs Kindern des Architekten und späteren Reichswirtschaftsministers Albert Speer.

In ihrer Autobiographie beschreibt sie das Aufwachsen in einer relativ friedvollen NS-Normalität, bei der man zu Hitler zum Essen geht, ansonsten aber - vermutlich dank der Mutter - relativ unpolitisch bleibt und das Rampenlicht allein dem dauerabwesenden Vater überlässt. Bezeichnenderweise ist das Buch keine Abrechnung mit dem Vater, wie es z.B. Niklas Frank macht, sondern es ist eine Beschreibung eines Lebens, in dem der Vater abwesend, gleichzeitig irgendwie präsent ist. Und genau damit hatte ich immer wieder meine Probleme beim Lesen. Margret Nissen scheint unglaublich unter ihrer Herkunft gelitten zu haben, wenn sie eine Beschäftigung damit so lange weggestoßen ha, auf der anderen Seite sind mir in dem Buch einfach keine wirklichen Gründe offenbart worden, worin dieses Leiden bestand. Ihre Kindheit nach 1945 führen sie und ihre Geschwister weiter fort wie bisher, zunächst mit weniger Geld, aber wirklich ausgegrenzt oder sonstwas werden sie wegen ihres Namens nicht - im gegenteil, die Großeltern Speer sind sehr honorige Personen, die in ihrer Stadt angesehen werden und das gilt auch für Schwiegertochter und Kinder. Drüber geredet, wer da noch zur Familie gehört, wird in den Fünfziger Jahren weder in der Familie noch in der Stadt, das Leben geht einfach weiter wie gehabt. Nur dass der Vater, der ja schon früher mehr oder weniger nur im Urlaub auftauchte und zum Held der Kinder avancierte, im Gefängnis sitzt und die Kommunikation größtenteils schriftlich abgewickelt werden muss, ist vielleicht anders - aber selbst diese Breif sind so normal, so alltäglich, so ... man kann es nicht anders sagen ... belanglos, das man sich beim Lesen immer wieder fragt, warum Margret Nissen plötzlich dieses Buch geschrieben hat. Irgendwann wird angedeutet, dass ihre frühe Hochzeit auch damit zu tun hat, dass sie ihren Mädchennamen loswerden will - aber so richtig verstehen kann man es alles nicht.

Ihr seht schon, ich hatte mir etwas mehr erwartet. Etwas mehr Auseinandersetzung, etwas mehr Autobiographie statt blabla. Deshalb von mir keine unbedingte Empfehlung ;-)