Sonntag, 9. September 2012

Jon Krakauer - In eisige Höhen


Muss man zu diesem Bild mehr sagen? Was ihr hier seht, sind die Überreste, die Bergsteiger seit Beginn der kommerziellen Expeditionen zum Dach der Welt auf eben diesem Dach hinterlassen haben. Sauerstoffflaschen, kaputte Zelte und alles, was bei einer Tour zum Gipfel des Mount Everest noch anfallen kann. 1994 reise der Journalist Jon Krakauer im Auftrag der Zeitschrift nach Nepal, um eine Reportage über die Probleme des „Massentourismus“ am Mount Everest zu schreiben. Krakauer, selbst Bergsteiger mit Höhenerfahrungen bis 6000 Metern, schloss sich dafür einer kommerziellen Tour an, die ihn auf den Gipfel bringen sollte – am Ende der Besteigung gerieten Krakauer und die übrigen Expeditionen in eine der schwersten Katastrophen in der Geschichte des Mount Everst, bei der nicht nur vier von seinen Teamkameraden ums Leben kamen, sondern drei weitere sofort und weitere vier in den nächsten Wochen. Aus Krakauers Reportage über Umweltzerstörung und Probleme durch Unerfahrenheit wurde ein sehr detaillierter Bericht über menschliches Versagen, Hybris und die Schönheit des Bergsteigens…


Das für mich immer wieder neu Faszinierende an diesem Buch ist die Tatsache, dass Krakauer es schafft, selbst für mich höhenkrankes Landei Bergsteigen als eine Option darzustellen, die ich theoretisch mal angehen könnte. Vielleicht nicht gleich den Mount Everest, aber so einen kleinen Dreitausender mit Seil erklimmen … ähm, halt, stop, dazu müsste ich mich körperlich anstrengen und riskiere trotz allem mein Leben. Eine Tatsache, die jedem Bergsteiger immer bewusst ist und die dennoch immer wieder neu bewiesen wird (was stand neulich in der Zeitung? Der Siebzigjährige, der in den Alpen in eine Gletscherspalte stürzte, ist wieder zu Hause in der Oberpfalz). Was treibt also Menschen dazu, sich in solche Extremsituationen zu begeben, das Risiko des eigenen Todes bei jedem Schritt bewusst in Kauf zu nehmen, um dann am Ende ein Fähnchen in einen Berggipfel zu stecken? Diese Frage versucht Krakauer zu beantworten, und er geht dabei nicht nur mit der Menschheit, sondern auch mit sich selbst ins Gericht. Auch er hat den Tod dieser Menschen mit zu verantworten, hat eventuell geschwächt durch Sauerstoffmangel dafür gesorgt, dass einem davon nicht Hilfe zuteil wurde, als sie noch möglich war, und hat diese Erlebnisse bis heute nicht verwunden. Ich frage mich, wie es Reinhold Messner geht, der seinen Bruder in eine Gletscherspalte fallen lassen musste, und welche Gedanken jemand hat, der am Everest an den tiefgefrorenen Leichen vorbeikommt, die es nicht wieder ins Tal geschafft haben. Und doch, trotz all dieses Grauens, kann ich am Ende ein klein bisschen nachvollziehen, wie es sich anfühlen muss, wenn man das geschafft hat, wenn man am Gipfel steht und weiß: weiter als du wird in diesem leben kein Mensch kommen, hier oben ist das Ende der Welt. Und ich kann plötzlich verstehen, warum jemand trotz aller dagegensprechenden Logik, darauf drängt, dort hinzukommen und sich weigert umzukehren. Dass dadurch eine Katastrophe geschehen kann wie 1994 lässt man gerne aus – Katastrophen, das passiert den anderen, nicht einem selbst. Selbstüberschätzung, der Glaube an die Fähigkeiten der anderen, grenzenloser Optimismus – das ist es, was die Expeditionen 1994 teilten (und ganz ehrlich, wenn man liest, wer da zum Teil mit welcher Erfahrung hochgeschleppt wurde, fragt man sich vor allem, warum damals nicht noch mehr Leute ums Leben gekommen sind!) und wovor krakauer warnen möchte. Das tut er in einer einfachen, klar strukturierten Sprache, die jedes Detail erzählt und Fakten nennt, die den Leser eigene Schlüsse ziehen lassen. Es ist keine Anklageschrift, aber kein Leser wird nach dem Ende des Buches sagen, dass das alles eine unvorhersehbare Katastrophe war.

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