Freitag, 15. März 2013

Joachim Gaertner - Ich bin voller Hass - und das liebe ich

Bücher über Amokläufe gibt es sehr viele. Manche schaffen es, einen kleinen Einblick in die Psyche der Täter zu verschaffen, andere verzichten darauf und schildern nur von außen. Alle haben gemeinsam, dass man die, die man fragen könnte, sollte und müsste, nicht mehr da sind und die Frage nach der Motivation in erster Linie Spekulation bleibt. Joachim Gartner hat deshalb einen anderen Weg beschritten. Er ist eingetaucht in die Psyche des Täters, oder um genau zu sein, der Täter.

1999, am Tag des Amoklaufs von Littleton, war ich selbst 16 Jahre alt, nur ein Jahr jünger als Eric Harris und Dylan Klebold. Ich hatte meine „ich hasse die Welt, das Leben ist scheiße“-Phase der Pubertät gerade hinter mir gelassen und steckte in einer Beziehung mit meiner Sandkastenliebe, die eigentlich meistnes im Off steckte, bis wir uns wieder zusammenrauften. Die Nachricht, dass zwei Jungen an ihrer High School einen Amoklauf durchgeführt hatten, dann Selbstmord begangen hatten und eigentlich geplant hatten, die gesamte Schule zu sprengen, war einerseits schockierend, andererseits verdammt weit weg von meinem Alltag (Erfurt sollte erst 2002, unmittelbar vor meinem Abitur, stattfinden und diese Taten deutlich näher an mich heranrücken). Und trotzdem stellte ich mir damals schon immer wieder die Frage nach dem „Warum?“. Ähnlich muss es Joachim Gartner gegangen sein. Er nahm Kontakt auf. Nicht zu den Eltern der Täter, nicht zu den Eltern der Opfer, sondern zur Polizei. Nach der Abschluss der Ermittlungen erhielt er Zugang zu den Polizeiakten, vor allem aber zu den Tonnen an Beweismaterial, das die Polizei gesammelt hatte. Notizbücher, Tagebücher, Einkaufszettel, Schulaufsätze – alles wild durcheinander, unsortiert und ohne Chronologie. Seine Idee: irgendwo darin steckt sie vielleicht, die Antwort, die Eric und Dylan schuldig geblieben waren. Er sichtete und suchte, er fand keine direkte Antwort. Aber was er fand, war ein Zugang in die Gefühlswelt der beiden Täter, die er veröffentlichte.

„Ich bin voller Hass, und das liebe ich“ ist ein schwieriges Buch. Nicht allein, weil es einfach nur eine Zusammenstellung von Aufsätzen, Listen, Zitaten aus Filmen, etc. ist – sondern vor allem, weil es nicht wertet. Weil allein der Leser die Wertung finden muss. Weil er den Bezug herstellen muss zwischen Gewaltphantasien in einer postapokalyptischen Welt im Aufsatz des Kurses für „Kreatives Schreiben“ und einem realen Amoklauf in einer High School. Weil er erkennen muss, dass die deprimierenden und traurigen Gedichte von denselben Jungen stammen, die in Kampfmontur durch die Schulgänge ballern. Weil er keine Antwort geliefert bekommt, sondern sie sich selbst suchen muss. Ich sitze immer wieder gebannt vor diesem Buch und weiß absolut nicht, wie ich mich dazu äußern soll. Es ist kein Faszinosum wie ein „True Crime“-Bestseller, sondern vor allem eine Herausforderung. Und die sollte man annehmen.

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